Die Piratenfraktion fordert in einem jetzt eingereichten Antrag die Stadtverwaltung auf, auf Bodycams für den kommunalen Ordnungsdienst zu verzichten. Die dafür vorgesehenen Steuergelder sollen stattdessen für die Aus- und Fortbildung der Ordnungskräfte eingesetzt werden. Die Gründe: anders als von WBG und CDU behauptet, deuten wissenschaftliche Studien eher in die Richtung, dass Bodycams zu mehr Angriffen auf die Trägerinnen und Träger führen. Dafür ist die Einführung aufwendig und teuer.
Einsame Entscheidung der Verwaltung
Eine Debatte zu dem Thema oder gar einen demokratischen Mehrheitsbeschluss im Stadtrat hat es bisher nicht gegeben. Stattdessen gab es lediglich eine Anfrage von CDU und WBG. Auf diese folgte eine Stellungnahme von Bürgermeister Lars König, die eine einsame Entscheidung der Verwaltung bekannt macht.
In ihrer Anfrage argumentieren WBG und CDU mit „wissenschaftlichen Studien“, die zeigen sollen, dass „die Hemmschwelle körperlicher Angriffe von Personen auf Amtsträger durch das Tragen dieser Kameras wesentlich erhöht“ würden. Auch auf Nachfrage wurde von den Fraktionen nicht angegeben, welche Studien das sein sollen. Tatsächlich deutet die Studienlage zum Thema Bodycams eher in Richtung einer Zunahme von Angriffen auf ihre Träger.innen. Die Einführung und die angekündigte Auswertung der Maßnahme durch die Stadt Witten wären darüber hinaus aufwendig und dürften erheblich Steuergeld und Arbeitszeit in der Verwaltung in Anspruch nehmen.
„Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des kommunalen Ordnungsdienstes machen einen wichtigen und harten Job. Sie dürfen unter keinen Umständen Opfer von Angriffen und Bedrohungen werden. Daher verdienen sie, dass die Stadt ihre knappen Ressourcen in belegt wirksame Maßnahmen steckt, um dies zu erreichen. Der Schutz dieser Menschen ist zu wichtig für ein konservatives Sicherheitstheater. Geld und Zeit, die in die Einführung von Bodycams fließen sollen, sind besser in wirksame Maßnahmen wie etwa Kommunikations- und Deeskalationstrainings oder Fortbildungen investiert.“
Fraktionsvorsitzender Stefan Borggraefe
Keine schützende Wirkung nachweisbar
Es gab bereits verschiedene wissenschaftlich begleitete Modellprojekte zu Bodycams in mehreren Bundesländern. In Nordrhein-Westfalen wurde ein solches Projekt durch das Institut für Polizei- und Kriminalwissenschaften (IPK) begleitet. Die Ergebnisse werfen ein zweifelhaftes Licht auf die Wirkung von Bodycams. Eine schützende Wirkung für die Träger.innen konnten die Forschenden nicht bestätigen — im Gegenteil nahm die Zahl der tätlichen Angriffe auf Polizeibeamte mit Bodycam sogar um 20 % zu. Zitat aus der Studie: „Zur Erklärung der erwartungswidrigen Befunde ergibt sich aus den Daten, dass Bodycams das Verhalten von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in Richtung eines unangemessen zurückhaltenden Einschreitens und einer formaleren Sprache beeinflussen und dadurch tätliche Angriffe begünstigen.“ Um diesem Effekt entgegen zu wirken empfiehlt das IPK, verstärkte Aus- und Fortbildungen sowie regelmäßige Trainings zum Thema Einsatzvideos.
Auch Studien aus Sachsen und Sachsen-Anhalt, die im August 2020 vorgestellt wurden, decken sich mit diesen Erkenntnissen. CILIP, das Institut für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit e.V. bewertet die Ergebnisse wie folgt:
„Die Polizeibeamt*innen schätzen die Wirkung von Body-Cams in den überwiegenden Fällen als bedeutungslos ein und in den Fällen in denen ein Effekt beim ‚polizeilichen Gegenüber‘ festzustellen ist, halten sich deeskalierende und eskalierende Wirkung in etwa die Waage. […] Body-Cams scheinen keine deeskalierende Wirkung zu haben. Damit wird der für ihre Einführung maßgebliche gesetzliche Zweck, die Abwehr von Gefahren für die eingesetzten Beamt*innen, massiv in Frage gestellt.“
Bodycams führen eher zu mehr Angriffen auf ihre Träger.innen
In die gleiche Richtung deuten die Ergebnisse der bislang größten Metastudie auf Grundlage von 30 randomisierten und kontrollierten Bodycam-Experimenten in den USA. Diese hat insgesamt eine Zunahme der Zahl Angriffe gegen polizeiliche Einsatzkräfte und von Widerstand gegen die Polizei aufgrund des Tragens einer Bodycam von 15,9 % ermittelt.
„Kein Geld für Computer an unseren Schulen, aber unwirksames Technik-Klimbim fürs Ordnungsamt! Menschen, die nur eine vergleichsweise kurze Grundausbildung erhalten, werden mit Schlagstock und Handschellen ausgerüstet und sollen danach polizeiähnliche Aufgaben übernehmen. Wenn dann etwas schief geht, sollen ihnen Bodycams aus der Patsche helfen. Das ist ein Irrweg. Eine Polizeibeamte, die die selben Aufgaben übernimmt, muss an einer Polizeihochschule ein dreijähriges duales Studium absolvieren und wird umfassend in Theorie und Praxis unterwiesen. Und selbst bei der gut ausgebildeten Polizei NRW kam es im Modellprojekt zu mehr Angriffen durch das Tragen von Bodycams, weil sich die Beamten und Beamtinnen anders verhalten, sobald die Kameras laufen.“
designiertes Ratsmitglied Detlef Steinert
Die Piratenfraktion ist weiterhin entsetzt darüber, dass der Messerangriff auf einen Mitarbeiter einer Security-Firma, der am Wittener Rathaus tätig war, für die Begründung der Anfrage von CDU und WBG missbraucht wird.
„Ein Angreifer, der derart rot sieht, dass er am helllichten Tage auf dem belebten Rathausplatz einen Menschen mit dem Messer angreift, lässt sich sicher auch nicht durch eine Bodycam davon abhalten. Es gab mehrere Augenzeugen und der Täter wurde innerhalb kürzester Zeit gefasst. Dass dieser Vorfall als Begründung von CDU und WBG herhalten muss, ist nichts als Stimmungsmache auf dem Rücken dieser schlimmen Tat. Es gibt keinen Zusammenhang mit dem Thema Bodycams oder Videoüberwachung.“
Stefan Borggraefe
Der Antrag der Piratenfraktion wird in der Sitzung des Stadtrates am 21. Juni behandelt. So wollen die Piraten auch die bisher verhinderte demokratische Debatte und Abstimmung über die Maßnahme ermöglichen.