Vision
Wir schreiben das Jahr 2025. Alle Kommunen in NRW und weit darüber hinaus haben längst Rats-TV eingeführt, Transparenz und Partizipation sind auf einem neuen Level, Demokratie beliebt wie nie. Tausende Menschen verfolgen regelmäßig Ratssitzungen, begeistern und interessieren sich für Kommunalpolitik. Außer: in Witten. Hier wurde nach etlichen Verzögerungen gerade endlich der neue Ratssaal fertig. Vorher ließ sich Rats-TV „leider“ nicht umsetzen, dem Publikum unzumutbar waren andere Räumlichkeiten.
Die mittlerweile sechsköpfige Piratenfraktion (viele Wähler.innen erinnerten sich offenbar daran, wer stets treu zu Transparenz und Teilhabe stand) stellt im neuen Rat unter der erstmals grünen Bürgermeisterin motiviert den mittlerweile 12. Antrag zum Thema Rats-TV in Witten, als sich Unruhe im Saal breit macht und altgediente Ratsmitglieder Einwände erheben. „Was ist mit den Persönlichkeitsrechten?“, „Was ist mit denen, die nicht so gut reden können?“, „Was ist mit …“. Stopp. Halt. Alles nur ein wirrer Tagtraum. Es ist ja März 2021 und in der gerade abgehaltenen Ratssitzung wurde doch sicherlich positiv über Rats-TV abgestimmt. Immerhin hat Witten seit kurzem einen neuen Rat, modern, progressiv, bürgernah, viele junge Leute, ein neuer Bürgermeister…
Was wirklich geschah
Am Dienstag, den 23. März 2021, hat der Wittener Stadtrat sich in der Ratssitzung eine neue Geschäftsordnung gegeben. Vieles sah im Vorfeld danach aus, als würde man endlich Rats-TV einführen, d.h. allen Menschen die Möglichkeit einräumen, an Ratssitzungen live oder in der Nachbetrachtung im Internet teilzunehmen. Als am Ende der vergangenen Wahlperiode die Piraten einen neuen Vorstoß wagten – schließlich hilft Rats-TV in der Pandemie auch Kontakte zu vermeiden – äußerten sich mehrere Fraktionen dahingehend, dass sie inzwischen auch für die Einführung seien, aber die Entscheidung dem neuen Stadtrat überlassen wollten.
Nach dem erfolgreichen Wiedereinzug machten die Piraten dementsprechend schon in den vorbereitenden Gesprächen für die konstituierende Ratssitzung einen Vorschlag zur Umsetzung. Das Signal sollte sein: lasst uns das jetzt endlich gemeinsam machen, indem wir Rats-TV in der interfraktionellen Runde, parteiübergreifend und gemeinsam, besprechen und ohne neuen Piraten-Antrag in den Vorschlag für die Geschäftsordnung des neuen Rates schreiben! Dieser Vorschlag wurde ignoriert und es gab einen Vorschlag für eine neue Geschäftsordnung, in dem Rats-TV weiter fehlte. Dementsprechend hat die Piratenfraktion am 5. Dezember 2020 erneut das Anliegen als Änderungsantrag „Rats-TV für mehr Transparenz, Demokratie und zum Schutz der Öffentlichkeit in der Corona-Pandemie“ eingebracht.
Die Debatte über die Geschäftsordnung und aller Änderungsanträge wurde seitdem von der Tagesordnung der Ratssitzung am 15. Dezember 2020 und von der am 15. Februar 2021 geschoben. Am 23. März sollte es dann aber endlich soweit sein. In Gesprächen mit anderen Fraktionen haben wir in diesen Monaten immer wieder betont, dass wir offen für Änderungswünsche an unserem Antrag sind und er gerne auch mitgezeichnet werden kann.
Doch wie es so ist, Rats-TV und Witten finden schwierig zueinander. Während nun auch in der kleineren Nachbarstadt Hattingen und im Kreistag des Ennepe-Ruhr-Kreises Rats-bzw. Kreistags-TV beschlossene Sache sind, scheinen in Witten immer noch einige weniger progressive Kräfte bemüht, das Thema weiter zu verschleppen. Oder will man den Piraten schlicht und ergreifend einfach nicht zugestehen, dass sie zurecht jahrelang die Fahne für Transparenz und Partizipation hochgehalten haben und Rats-TV mittlerweile landauf und landab zu einem Kommunikationsstandard wird? Anders jedenfalls lassen sich die neuesten Entwicklungen kaum noch interpretieren. Deutlich wird jedenfalls: wer sich jetzt noch gegen Rats-TV sperrt, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt und verwehrt interessierten Menschen bewusst den Einblick in die Arbeit des Rates.
„Hoffentlich habe ich mich nicht zu früh gefreut als ich annahm, wir wären endlich soweit und der neue Rat würde sich endlich Streaming und Aufzeichnung in die Geschäftsordnung schreiben. Sich in die Karten schauen zu lassen und den Wittener.innen die Möglichkeit zu geben, transparent die demokratischen Prozesse in unserer Stadt nachvollziehen zu können, sollte selbstverständlich für Volksvertreter.innen sein. Noch setze ich darauf, dass die Ratsmitglieder am Ende genauso denken.“
Elaine Bach, Ratsmitglied der Piratenfraktion
2023 oder doch lieber die Ältesten befragen
Überraschend schlug nun die Stadtverwaltung im Haupt- und Finanzausschuss eine Woche vor der Ratssitzung vor, die online Übertragung von Ratssitzungen erst nach Fertigstellung des neuen Ratssaales durchzuführen, was frühestens 2023 der Fall sein soll, eher noch später. Dieser Vorschlag ist schlicht und ergreifend sinnlos, es bedarf weder einer besonderen Akustik noch einer frischen Wandfarbe, um die Sitzungen online zu zeigen.
Doch auch darüber wurde dann in der Ratssitzung am Dienstag nicht gesprochen. Vielmehr überraschten die Grünen mit einem Antrag, unseren Antrag erneut von der Tagesordnung zu nehmen, was mit Unterstützung von SPD und CDU dann auch beschlossen wurde. Offizielle Begründung: die Ratssitzung solle zur Senkung des Corona-Ansteckungsrisikos verkürzt werden. Die aus diesem Manöver entstandenen Diskussionen und Verwirrung haben die Sitzung jedoch verlängert.
Nachdem der Antrag der Piratenfraktion für eine unverzügliche Einführung von Rats-TV vom Tisch war, sollte nun also eine Fassung der Geschäftsordnung beschlossen werden, die Rats-TV bis mindestens 2023 verhindert hätte. Dies konnte die Piratenfraktion durch einen Redebeitrag und einen mündlichen Änderungsantrag (der gut ausgearbeitete schriftliche Antrag war ja nicht mehr auf der Tagesordnung) abwenden. Beschlossen wurde dann letztlich, den betreffenden Paragrafen der Geschäftsordnung zunächst in der Fassung von 2014 beizubehalten. Jetzt soll der Ältestenrat über das Thema Rats-TV nicht-öffentlich beraten.
Zurück bleibt viel Verwunderung und Irritation und die vage Hoffnung, die Arbeitsgruppe der Fraktionschefs im Ältestenrat möge anerkennen, dass an Rats-TV kein Weg vorbei führt und dem Rat empfehlen, im der nächsten Ratssitzung im Juni endlich Rats-TV zuzustimmen. Auch wenn bis dahin wieder unnötig Zeit verschwendet wurde. Übrigens, vor etwa 4,5 Jahren, am 22. November 2016, hatten die Piraten bereits erstmalig beantragt, was nun geschieht:
„Der Rat bildet eine Arbeitsgruppe, die gemeinschaftlich die notwendige Änderung der Geschäftsordnung erarbeitet. Diese soll insbesondere auch die Persönlichkeitsrechte der einzelnen Ratsmitglieder und Verwaltungsmitarbeiter.innen berücksichtigen.“
Antrag der Piratenfraktion Witten vom 22. November 2016

Die Wittener Piraten kämpfen also tatsächlich schon seit Jahren für die Einführung von Rats-TV. Ein moderner Rat muss transparent sein und den Einwohner.innen der Stadt einen nachvollziehbaren Einblick gewähren, wie es zu Abstimmungen und Entscheidungen kommt, wie Debatten geführt werden und argumentiert wird. Die Sitzungen des Rates und seiner Ausschüsse sind laut Gemeindeordnung öffentlich. Öffentlichkeit im Sinne unserer Zeit bedeutet nicht nur die Möglichkeit, Sitzungen physisch zu besuchen, sondern diese auch live im Internet mitverfolgen und jederzeit nachträglich abrufen zu können.
„Ich bin gespannt, welche Ratsfraktionen jetzt wirklich mehr Transparenz, Offenheit, nachvollziehbare Politik und barrierefreien Zugang zu den Ratssitzungen in Witten wollen und die Zeichen der Zeit erkennen. Die taktischen Spielchen in der vergangenen Ratssitzung, die erneut eine Entscheidung verhindert haben, sind in einer Krise noch unwürdiger als sowieso schon. Für so etwas haben uns die Menschen ganz sicher nicht gewählt!“
Stefan Borggraefe, Vorsitzender Piratenfraktion Witten

Aus den nun folgenden, nicht-öffentlichen Gesprächen können wir naturgemäß leider nicht berichten. Was dabei herauskommt, wird man an der Tagesordnung der nächsten Ratssitzung im Juni erkennen können. Die Piraten hoffen weiter auf Rats-TV vor 2025. In einer Zeit, in der immer mehr Menschen Live-Übertragungen im Internet nutzen und lernen, wie einfach so etwas heutzutage ist, ist es schon lange nicht mehr vermittelbar, warum das ein Stadtrat nicht auch schon längst tut!
Fun fact: allein für die Kosten der Rathaussanierung könnte man 3.500 Jahre lang Rats-TV finanzieren (die Sanierung wird 1.000 Jahre Rats-TV teurer als ursprünglich geplant).